Denkzeit – warum bleibt heute keine Zeit mehr zum Nachdenken?

Gerne möchte ich heute mit einem Zitat von Altbundeskanzler Helmut Kohl einsteigen, das uns auf humorvolle Weise den Ernst der Lage zeigt: „Ich denke auch bei Tag über vernünftige Dinge nach, nicht nur nachts; nachts will ich ja lieber schlafen.“ Und sind wir ehrlich, wir alle kennen es, wenn auf einmal vor dem Einschlafen die Gedanken auf Hochtouren laufen … das liegt oftmals daran, dass wir uns keine Zeit mehr zum Denken nehmen (dürfen).

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Insbesondere in Gesprächen, bei Besprechungen oder Meetings wird erwartet, dass sofort Antworten auf Fragen kommen. Wenn dies einmal länger dauert, oder sich jemand gar herausnimmt zu sagen, in Ruhe über die Antwort nachdenken zu wollen, dann wird schon nervös mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt oder mit einem tiefen Seufzen das Smartphone herausgeholt. Es wird bemängelt, dass die Entscheidungsprozesse in Terminen zu lange dauern, denn schließlich sitzen hier Profis zusammen, die wissen müssen, worüber sie reden. An dieser Stelle lege ich ein Veto ein, denn wenn die Menschen die Zeit haben über das, was gerade passiert oder über gestellte Fragen nachzudenken, verbessert sich auch die Qualität der Gespräche.

Nachdenken ist hier nicht erlaubt

Der Druck in den Unternehmen wächst und Führungskräfte tendieren dazu, diesen an ihre Mitarbeitenden weiterzugeben. Das lässt sich häufig daran erkennen, dass im Austausch überhaupt keine Zeit eingeräumt wird, um nachzudenken. In vielen Fällen kommt es noch schlimmer – Bedenkzeit ist verpönt und verboten. Aussagen wie: „Wer erst nachdenken muss, macht seinen Job nicht richtig, hat sich nicht mit Thema auseinandergesetzt oder ist unvorbereitet“ sind nicht selten und auch ein Schweigen erweckt den Anschein, dass man nicht wüsste, worüber man spricht. Geschuldet ist das der zunehmenden Geschwindigkeit in Unternehmen, dem Berg an Arbeit, der stetig wächst und dem steigenden Druck. In immer kürzeren Abständen müssen Ergebnisse geliefert werden und Produkte zum Kunden kommen. Was jedoch immer knapp ist, ist die Zeit. Termine, das Tagesgeschäft, unvorhergesehene Arbeiten – niemand hat heute mehr Zeit und erst recht nicht zum Nachdenken.

Noch Fragen?!

Nehmen Sie sich einmal Ihren Terminkalender zur Hand. Wahrscheinlich ist er komplett ausgefüllt. Von morgens bis abends ein Termin nach dem anderen, doch wo bleibt die Lücke, das Zeitfenster, um die Informationen aus einem Gespräch zu verarbeiten und sich auf das Kommende einzustellen? Kaum hat man sich von dem einen Gesprächspartner verabschiedet, sitzt schon der nächste im echten oder virtuellen Warteraum. Der Druck steigt weiter. Während man mit dem Kunden meist noch etwas mehr Geduld hat, wenn es darum geht, Fragen zu beantworten, so ist bei internen Meetings zu beobachten, dass bei einer Frage an ein Team oder eine Einzelperson, binnen Sekunden eine Antwort fallen muss. Mit der Zeit etabliert sich dieses Verhalten und die Art der Kommunikation in der Unternehmenskultur. Ein typisches Beispiel hierfür ist das obligatorische „Haben Sie noch Fragen?“ am Ende einer Präsentation. Der Vortragende zählt im Kopf meist bis drei und wenn bis dahin keine Meldungen kommen, wird sich für die Aufmerksamkeit bedankt und verabschiedet. In vielen Unternehmen ist dieses Verhalten sogar erwünscht, denn es herrscht eine Kultur des Ablieferns. Werden Fragen gestellt, kommen Zweifel am Gesagten oder sonstige Anmerkungen, dann entstehen mitunter zusätzliche Aufgaben, die auf den ohnehin schon himmelhohen Arbeitsberg geladen werden – und niemand möchte der- oder diejenige sein, die das dann übernehmen muss. Quantität vor Qualität scheint das Motto zu sein und gehört es zur Kultur, ohne Wenn und Aber abzuliefern, dann wird generell auch kein Hinterfragen der Erstellung, Bearbeitung oder des Status akzeptiert.

Lassen Sie die Leute denken

Aus diesem Grund mein Appell an alle Unternehmen und Führungskräfte: Lassen Sie die Leute denken! Wenn Sie qualitative Rückmeldungen und gewinnbringenden Input zu bestimmten Fragen, in Präsentationen, Gesprächen usw. erhalten wollen, dann brauchen die Menschen Zeit, sich Gedanken drüber zu machen – sowohl über den Inhalt als auch die Art, wie sie diesen transportieren möchten. Dafür braucht es mehr als 3 Sekunden „Bedenkzeit“. Wenn ich eine Frage stelle, dann sage ich offen: „Ich gebe euch jetzt Denkzeit. Nehmt euch bitte Zeit zum Denken.“ Das irritiert viele im ersten Moment, denn sie glauben sofort antworten zu müssen, wie sie es gewohnt sind. Doch sobald sich Teams daran gewöhnt haben, entstehen Ruhe und Qualität in der Arbeit. Es gibt einige eindeutige Anzeichen dafür, dass es höchste Eisenbahn ist, mehr Denkzeit einzuräumen: In einem Termin wurde eine Entscheidung getroffen und die Menschen haben diese sofort wieder vergessen oder revidieren sie nur kurze Zeit später, vielleicht weiß auch niemand mehr, wofür genau jetzt abgestimmt wurde, da er nicht die Möglichkeit hatte zu hinterfragen.

Meine Ausbilderin in der systemischen Beraterausbildung sagte einmal: „Wenn auf deine Frage keine Antwort kommt, dann ist es ersten eine gute Frage und zweitens, zähle bis 500. Es wird definitiv eine Antwort kommen.“ In diesem Sinne wünsche ich Ihnen auch frohes Zählen, damit sich die Qualität der Termine erhöht. Ich freue mich darauf, mit Ihnen über dieses Thema zu sprechen und Ihre Erfahrungen zu hören. Rufen Sie mich gerne an oder vernetzen Sie sich mit mir auf LinkedIn.